Es ist noch nicht lange her, dass der Film „Orgasmic Birth“ für Schlagzeilen sorgte und nicht nur in Fachkreisen die Frage gestellt wurde, in wie weit eine Geburt eine Art „orgasmischer Zustand“ sein kann. Viele, wenn nicht sogar die meisten Frauen nehmen die Geburt jedoch auf eine sehr andere Art wahr: Schmerzhaft und quälend – oder entscheiden sich vorab für einen Kaiserschnitt, um diesem Zustand nicht „hilflos“ ausgeliefert zu sein. Der bekannte französische Geburtshelfer und Autor Michel Odent geht in seinem neuen Buch „Die Natur des Orgasmus: Über elementare Erfahrungen“ den orgasmischen Zuständen nach und beschreibt eindrücklich, was der zunehmende Verlust der natürlichen Körperreaktionen (insbesondere der Verlust der natürlichen Geburt) für die Gesellschaft bedeutet.
„Angesichts des Stands der gegenwärtigen wissenschaftlichen und technischen Entwicklung gibt es ernst zu nehmende Gründe, die Zukunft der Liebe pessimistisch zu sehen. Obwohl alle Gesellschaften sich massiv in die physiologischen Vorgänge der perinatalen Phase einmischten, waren Gebärende bis vor Kurzem auf die Ausschüttung eines Cocktails von Liebeshormonen angewiesen, um ihr Kind auf die Welt bringen zu können. Dies hat sich nun geändert.“ So beschreibt Michel Odent den derzeitigen Stand in der Geburtshilfe, der allen Forschungsergebnissen über die Bedürfnisse der Gebärenden widerspricht. Nicht die technische Überwachung und schnelles Eingreifen bei langsamen Geburtsprozessen ist es, was Gebärende benötigen, sondern vielmehr Ruhe, Stille und möglichst wenig Störungen. Dies sind jedoch Aspekte, die – obwohl durch Studien belegt – in den heutigen Gebärsituationen insbesondere im Krankenhaus nicht mehr vorzufinden sind. Das allzu schnelle und störende Eingreifen behindert den empfindlichen Hormonhaushalt so sehr, dass besonders das „scheue Liebeshormon“ Oxytozin darunter leidet. Der Mangel an diesem vom Körper produzierten Hormon wirkt sich unter der Geburt hemmend aus, aber auch in der postpartalen Phase, wenn es um das Stillen oder den Bindungsaufbau geht.
Was hat dies nun jedoch mit Orgasmen zu tun? Nach Odent gleicht der natürliche Geburtsvorgang einem Fötus-Ejektions-Reflex, bei dem das Kind in einer kurzen Serie unaufhaltsamer Kontraktionen geboren wird. Ein ähnlicher Reflex stellt sich beim Stillen ein: der Milch-Ejektions-Reflex. Nach Odent sind die Prozesse der Empfängnis, des Pressens des Babys durch den Geburtskanal und des Pumpens der Milch durch die Brust gleichsam Höhepunkte, bei denen alle Ebenen des Nerven- und Hormonsystems einbezogen sind und die in einen anderen Bewusstseinszustand führen.
Dass auch beim Gebären und Stillen orgasmische Zustände erreicht werden, belegt Odent mit unterschiedlichen Studien. Zusätzlich wird der Leser in einen kurzen geschichtlichen Abriss über die Entwicklung der Geburtshilfe und der kulturellen Eingriffe in selbige einbezogen. Ausführlich geht Odent auf die an orgasmischen Zuständen beteiligten Hormone ein und führt Unterschiede zwischen den weiblichen und männlichen Orgasmen auf, bevor er sich den Auswirkungen der derzeit üblichen Eingriffe im Geburtsprozess widmet. Doch auch einen kleinen Lichtblick lässt er erkennen bei all den negativen Interventionen, denn „den optimistischen Szenarien zufolge werden künftige Generationen erkennen, dass das Überflüssigwerden von Liebeshormonen der besorgniserregendste Aspekt unserer Herrschaft über die Natur ist. Demnächst hängt alles davon ab, ob die Menschen rechtzeitig zu einem neuen Bewusstsein finden.“
Gesamturteil: Michel Odent hat ein insbesondere für Fachleute interessantes Buch über die Bedeutung der Liebeshormone für die gesamte Menschheit geschrieben. Leider werden viele der Theorien mit Studien belegt, die an Tieren durchgeführt wurden. Dies gibt dem Buch einen etwas unangenehmen Beigeschmack. Auch kann man sich durch die Beschreibung der Forschungsabläufe gut vorstellen, wie unangenehm diese Forschungen für die Tiere sind. Ob sie dabei auf den Menschen einfach übertragen werden können, ist fraglich. Dennoch sind die Ansätze und Fragestellungen Odents richtig und bedürfen unbedingt einer Beachtung in Fachkreisen, um die rückschrittlichen Fortschritte der modernen Medizin einzudämmen.