Sind wir einmal ehrlich: Wie oft denken wir uns „Warum fühlt sich das Baby nicht wohl? In anderen Kulturen gibt es kein Spielzeug/keinen Kinderwagen/keine Wippe… und die Kinder wachsen trotzdem gut auf.“ Irgendwann kommt jeder Mutter oder jedem Vater einmal dieser Gedanke. Wie es auch ohne all unsere teuren technischen und kulturellen Errungenschaften geht, zeigt Jean Liedloff in ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit“ am Beispiel der Yequana-Indianer im Dschungel Venezuelas.
Jean Liedloff hat insgesamt zweieinhalb Jahre bei den Yequana-Indianern gelebt und dabei festgestellt, dass sie auf eine besonders glückliche und harmonische Art zusammen leben. Den Ursprung dieses Glücks findet Liedloff in der frühen Kindheit der Indianer und darin, dass die Kinder der Yequana in den ersten Lebensjahren ausschließlich getragen werden wodurch sie, laut Liedloff, auf besonders sanfte Art im Leben ankommen und eine sichere Bindung zu ihren Bezugspersonen aufbauen können. Sie stellt die Kindheit der Yequana der Kindheit in unserer zivilisierten Gesellschaft gegenüber und vertritt den Standpunkt, dass uns das Wissen um die Bedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern abhanden gekommen, das „menschliche Kontinuum“ verloren gegangen ist.
„Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit“ ist mittlerweile ein Standard-Werk der Erziehungsratgeberliteratur und in vielen Regalen zu finden. Dabei ist zu beachten, dass Liedloffs Werk erstmals 1977 veröffentlicht wurde und ganz im Sinne dieser Zeit steht. Viele der grundlegenden Gedanken finden sich auch in anderen seither erschienenen Ratgebern für Eltern: So ist seit langem bekannt, dass das Tragen des Kindes wesentliche Vorteile in psychologischer und physiologischer Hinsicht bietet. Auch dass Kinder nach der Geburt nicht von der Mutter getrennt werden sollen, wird mittlerweile fast überall beachtet. Und dass das Schreienlassen des Kindes der kindlichen Entwicklung nicht förderlich ist, wird häufig erwähnt. Somit arbeitet Liedloff Kernpunkte heutiger Erziehungstipps heraus. An einigen Stellen erscheint die Meinung der Autorin jedoch sehr dogmatisch, etwa wenn es um das Tragen geht und sie die These aufstellt, dass durch das fehlende Tragen in unserer Kultur nahezu alle Probleme hervorgerufen werden, mit welchen wir heutzutage kämpfen müssen (wie zum Beispiel Drogenabhängigkeit oder Krankheiten). Ein Ausweg würde sich darin finden, dass Kinder auch heute nahezu ununterbrochen am Körper der Mutter getragen werden. Es ist auch fraglich, ob man Kindern hier tatsächlich uneingeschränkten Zugang gewähren sollte zu allen Alltagsgegenständen der Eltern. Würde man nämlich die Unfälle, die sich in den zweieinhalb Jahren bei den Yequana-Kindern ergeben haben, auf eine größere Population und einen längeren Zeitraum hochrechnen, ergäbe sich ein leicht anderes Bild.
Gesamturteil: Ein interessantes Buch über Kindererziehung in einer anderen Kultur. Liedloffs Thesen sind jedoch nicht uneingeschränkt nachvollzieh- und anwendbar. Empfehlenswert für die Zeit der Schwangerschaft oder im Wochenbett, jedoch eher nicht für Mütter mit größeren Kindern, da es sonst zu Schuldgefühlen kommen kann, wenn man nicht nach Liedloffs Kontinuums-Prinzip gelebt hat. Es gibt aber auch durchaus Literatur jüngeren Datums, die weniger dogmatisch eine natürliche Geburt und Kindererziehung in den Vordergrund stellt.